Es war kurz nach Mitternacht, als Tom sich einen letzten Tee kochte und auf den kleinen Balkon seiner Wohnung trat. Die Stadt hatte sich beruhigt, nur das leise Rauschen von entfernten Autos lag in der Luft. Es war warm. Ein leichter Wind spielte mit der Wäscheleine, irgendwo bellte ein Hund.
Und dann sah er sie.
Im Gebäude gegenüber – nur ein paar Meter entfernt, direkt gegenüber seinem Balkon. Eine Frau, in ein weiches Morgenkleid gehüllt, mit einem Glas Wein in der Hand. Sie stand am Geländer, den Blick auf die nächtliche Stadt gerichtet. Ihre Haare fielen offen über ihre Schultern, im Schein der Balkonleuchte wirkten sie fast golden.
Tom wollte nicht starren – und konnte doch nicht anders. Ihre Haltung war ruhig, selbstbewusst. Nicht auffällig, aber… wach. Als hätte sie gespürt, dass er sie beobachtete.
Sie drehte den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Kein Lächeln, kein Nicken. Nur ein Moment voller Spannung.
Tom hob seine Tasse leicht an – eine wortlose Geste. Sie hob ihr Weinglas. Ein stummer Toast über die Gasse hinweg.
In den folgenden Nächten wurde das zur Routine. Immer gegen Mitternacht – sie, auf ihrem Balkon, manchmal lesend, manchmal einfach nur dastehend. Und er, mit seiner Tasse, seinem Blick, seinem Herzschlag, der ein bisschen zu schnell ging, wenn sie da war.
Bis sie eines Nachts einen Zettel hochhielt. Groß genug, dass er ihn lesen konnte:
„Du wach?“
Er griff zu Stift und Papier, schrieb nur: „Immer, wenn du da bist.“
Sie lachte. Dann verschwand sie kurz – und kam mit einem zweiten Glas Wein zurück. Sie stellte es demonstrativ auf das Geländer. Für ihn. Für den Moment.
Ein Spiel begann. Leise. Ohne Worte. Nur mit Blicken, Bewegungen, Gesten. Sie legte sich zurück, zog das Kleid ein wenig höher, spielte mit dem Glas. Er beobachtete – nicht gierig, sondern gebannt. Jeder Blick von ihr wirkte wie eine Berührung.
Er wusste, dass es mehr war als Neugier. Es war Nähe – über die Luft hinweg, durch Fenster, durch Licht und Dunkelheit.
In einer Nacht hielt sie einen neuen Zettel hoch: „Soll ich rüberkommen?“
Er antwortete nicht. Er ging zur Tür und ließ sie offen.
Was folgte, war leise, warm und voller Spannung. Kein hektisches Ausziehen, kein flüchtiges Verlangen. Es war das Finden zweier Menschen, die sich in der Stille erkannt hatten. Ihre Körper bewegten sich im Takt der leisen Nacht. Ihre Haut sprach mehr als ihre Stimmen.
Als der Morgen kam, schlief sie noch – auf seiner Couch, eingewickelt in sein Hemd. Der Balkon war leer. Aber seine Welt war voller geworden.